Stimmen aus dem Massengrab
Erich Kästner
Aufnahme 2013
(Für den Totensonntag, anstatt einer Predigt)
Da liegen wir und gingen längst in Stücken.
Ihr kommt vorbei und denkt: sie schlafen fest.
Wir aber liegen schlaflos auf dem Rücken,
weil uns die Angst um Euch nicht schlafen lässt.
Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen.
Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht!
Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen!
Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.
Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren,
wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun.
Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren
und lässt euch sagen: Laßt die Toten ruhn!
Ihr dürft die Angestellten Gottes loben.
Sie sprachen schön am Massengrab von Pflicht.
Wir lagen unten, und sie standen oben.
„Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“
Da liegen wir, den toten Mund voll Dreck.
Und es kam anders, als wir sterbend dachten.
Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck.
Ihr lasst Euch morgen, wie wir gestern, schlachten.
Vier Jahre Mord, und dann ein schön Geläute!
Ihr geht vorbei und denkt: sie schlafen fest.
Vier Jahre Mord, und ein paar Kränze heute.
Verlasst Euch nie auf Gott und seine Leute!
Verdammt, wenn ihr das je vergeßt!
Zum Geleit
Walter Flex
Ich trat vor ein Sodatengrab
und sprach zur Erde tief hinab:
„Mein stiller, grauer Bruder du,
das Danken läßt mir keine Ruh.
Ein Volk in toter Helden Schuld
brennt tief in Dankesungeduld.
Daß ich die Hand noch rühren kann,
das dank ich dir, du stiller Mann.
Wie rühr ich recht sie dir zum Preis?
Gib Antwort, Bruder, daß ich's weiß!
Willst du ein Bild von Erz und Stein?
Willst einen grünen Heldenhain?“
Und alsobald aus Grabesgrund
ward mir des Bruders Antwort kund:
„Wir sanken hin für Deutschlands Glanz.
Blüh', Deutschland, uns als Totenkranz!
Der Bruder, der den Acker pflügt,
ist mir ein Denkmal, wohlgefügt,
die Mutter, die ihr Kindlein hegt,
ein Blümlein überm Grab mir pflegt.
Die Buben schlank, die Dirnlein rank
blüh'n mir als Totengärtlein Dank.
Blüh', Deutschland, überm Grabe mein
jung, stark und schön als Heldenhain.
Das oben eingestellte Gedicht fand ich kürzlich (Jan 2020) in einem verstaubten militärhistorischen Band, in dem die Geschichte eines preußischen Feldartillerieregiments im ersten Weltkrieg unter dem Titel: „Deutsche Tat im Weltkrieg 1914/1918“ dargestellt wird. Natürlich werde ich dies Gedicht nicht sprechen. Stattdessen stelle ich es hier als mahnendes, ja abschreckendes Beispiel chauvinistischer Kriegsverherrlichung Kästners Gedicht gegenüber. Walter Flex, der 1917 fiel, war bereits während des Krieges ein erfolgreicher, berühmter Autor. In der Zeit des Nationalsozialismus – doch auch schon in der Zeit der Weimarer Republik – wurdem zahlreiche Kasernen, Straßen und Plätze nach ihm benannt, von denen manche erst mit großer Verspätung umbenannt wurden, z.B. erst 2017 die Walter-Flex-Straße in Bonn in Genscherallee.