Minetta Street
Mascha Kaléko
Aufnahme 2011
Ich bin, vor jenen „tausend Jahren“,
Viel in der Welt herumgefahren.
Schön war die Fremde; doch Ersatz.
Mein Heimweh hieß Savignyplatz.
Weißgott, ich habe unterdessen
Recht viel Adressen schon vergessen.
– wenn's heut mich nach „Zuhause“ zieht,
So heißt der Ort: „Minetta Street“.
Minetta Street ist eine Gasse,
Aus Höflichkeit nur „Street“ genannt,
Im „Village“, wo die Künstlerklasse
New Yorks ihr Klein-Montmartre fand.
Hier gehn die Mädchen kurzgeschoren,
Die Jünglinge im langen Haar.
Hier nennt sich jede Kammer „Studio“
Und jede Schenke „Künstlerbar“.
Trotz deines Talmi und Lametta
– Du Auch-Bohème in Reinkultur –
Gehört mein Herz dir längst, Minetta!
Und nicht des Reimes wegen nur.
Auf hohem Fuß leb ich, verbatim –
Vier Treppen hoch – mit Mann und Kind,
Wo wir zuweilen außer Atem,
Doch niemals ohne Himmel sind.
Hier, wo der Jünger des Picasso
Mit „Ismus“ malt statt Genius,
Schwang der Indianer einst sein Lasso,
Rauschte der Old Minetta-Fluß.
Du hörst ihn unterirdisch hasten,
Wenn er vom Eis erwacht im Lenz,
– Im „Penguin“, wo die Literasten
Sich raufen um die „Existenz“.
Sein Murmeln klingt durch meine Träume
Oft wie ein Quell im Odenwald.
Wacht man dann auf, so sind die Bäume
Laternen nur im Stadtasphalt.
Und doch, trotz Talmi und Lametta –
In „Poetry“ und auch in „Prose“
Sing ich dein Lob, my dear Minetta,
Und nicht des Reimes wegen bloß.
Wenn einst, in friedlicheren Zeiten
Die Länder um das Vorrecht streiten,
(Scheint die Besorgnis auch verfrüht):
Tja, welches von M. K.'s Quartieren
Soll die ‚Hier wohnte'-Tafel zieren ...?
– Ich stimme für Minetta Street.