Römische Epigramme
Hermann Kesten
Aufnahme 2024
Lange hab' ich es genossen,
Dass ich nicht, beileibe,
Der ich bin, stets bleibe,
Und so ist die Zeit verflossen.
Meine Tage sind dahin,
Und ich bin nicht, der ich bin.
Noch einmal an fremden Tischen gegessen,
In neuen Betten geschlafen, in alten Stuben gesessen,
Nochmals durch enge Gassen gegangen,
Freunde gesehn und Träume gefangen,
Die Welt empfunden und nachgedacht,
Ein Mädchen geküßt und Verse gemacht
Wiederholtes wiederholt und noch einmal
Mit Glück mich vergiftet, mich gesättigt mit Qual.
Mit tausend Zungen spricht
Zu dir der Baum im Licht.
Die weißen Wolken schwellt
Ein Wind aus fremder Welt.
Du lebst des Sommers Leben
Im Summen, Fließen, Weben.
An Gottes Segen ist nichts gelegen.
Aus Gottes Siegen wächst kein Gewinn.
Ich selber bin mein Fluch und Segen,
Weil ich nur bin, solang ich bin.
Was mir vom Leben zugemessen,
Das habe ich fast aufgegessen.
Es bleiben nur zwei Bissen Brot:
Der Weisheit Frucht, Furcht vor dem Tod.
Der Mond wird täglich geringer
Er langt mit langsamem Finger
Nach meinem Herzen.