Der Aasvogel spricht
Wolfdietrich Schnurre
Aufnahme 2017
Immer schon
habe ich nach Worten gesucht,
aus denen du hörst,
wie sehr ich dich liebe.
Das eine, das so große
und gutgemeinte
Wort, welches gleich
nach Gott kommt, ich
hielt es für alt,
für verbraucht. Doch ich kehre
nach meinem Rundflug
zum Ast dieses Wortes zurück,
ich setze mich auf seine Schulter;
ich lege die Flügel zusammen
und mein schuldig gewordener
Schnabelmund formt, was ich denke;
und ich nenne dich,
wie dich alle genannt haben:
Mensch.
Ich weiß, ich habe kein Recht,
dein Ohr mit dem Gekrächz
meiner Stimme zu füllen.
Es ist wenig Neues, was ich dir sage;
du wirst weghören wollen.
Doch was du sonst hörst,
hat die Möglichkeit,
sichtbar zu werden. Ich aber möchte
vom Nichtsichtbaren sprechen.
Ich möchte dir sagen, dass diese
achtzig Jahre nichts als die Spitze
eines Eisberges sind, dessen
tausendmal größerer Rumpf
bis tief ins Weltmeer hinabreicht.
Dein Tod lässt dich nur
die Kälte der Eismassen spüren:
Du schmilzt in dich hinein
und bist nun gefangen
in einem glasigen Block
voll gefrorener Bilder.
Und es sind Bilder des Schreckens.
Du siehst Skorpione
mit verwüsteten Kindergesichtern
elchhafte Greise, die pergamentene
Flügel entbreiten, geifernde Echsen
in brunftfarbenem Brautschmuck
einhergehen auf
den Schenkeln getöteter Männer.
Seesterne siehst du
mit schleimig klaffenden Mündern,
Vögel, in deren durchsichtigen
Köpfen sich Embryos krümmen,
Spinnen, die einen Pelz
aus Menschenhaar tragen.
Immer wieder siehst du die gleichen,
die furchtbaren Glieder der Kette,
aus der du dich löstest.
Doch auch dieser Block schmilzt,
und mit ihm schmelzen die Bilder.
Sie lösen sich auf; ihre Essenz
bleibt dem Wasser erhalten
oder verdunstet. Und dann
fühlst auch du dich
vom Wasser umleckt,
und das äußerste Glücksgefühl,
dessen eine Substanz
nur fähig sein kann,
strömt in dich ein.
Und nun bist du Salz; und es kommt
wieder, eingebettet ins Weltmeer,
die Träne Gottes zum Vorschein,
die schon immer dein Wesen bestimmte,
und die auch jetzt
genug von seiner Netzhaut gespülte
Wünsche enthält, um dich Kristall
oder Plankton werden zu lassen.
Schon spürst du wieder den Frost;
was noch da ist von dir,
schießt mit anderen Teilen
zu einem Eisstern, zur obersten
Spitze eines künftigen, tief
in den Meeresgrund wachsenden
Eisbergs zusammen.
Und du beginnst auch
wieder zu sehen, doch diesmal
hinauf; alle nun neu
beschworenen Bilder
heften sich an dich
ohne dein Wissen.
Nur in den Träumen,
die du so gerne verschweigst,
steigt noch der elchige Alte
mit den Fledermausflügeln herauf.
- Und hier möchte ich zu dir
wieder vom Sichtbaren reden,
von dem, was du bist;
jetzt, da ich dich anspreche,
Mensch.
Ich möchte dir sagen, dass diese
achtzig Jahre tausendmal mehr sind
als es der untere Teil
eines Eisberges andeuten kann.
Kein Gebirge der Welt ist imstande,
die Last an Todesmut, Freude
und Angst aufzuwiegen,
wie du sie jene Spanne lang trägst.
Und fordert man Totschlag von dir,
gibt man dir Gewehre und Messer,
dann, bitte ich dich,
gedenke nur einmal
jener gefrorenen Schrecken,
aus denen du kamst,
zu denen du gehst.
Und erinnere dich auch: So einsam
du warst im Eisblock des Todes -
dem, den du tötest,
wird es ergehen wie dir.
Warum ihn jetzt schon
hinabschicken ins
Glashaus des Grauens?
Er hat Lehm an den Schuhen wie du.
Lehnt das Gewehr an die Wand.
Stoßt das Messer ins Erdreich.
Erkennt die nackte,
auch von Gott nicht zu heilende
Herkunft alles Lebendigen
aus dem Schlamm.
Bedauert das vergängliche Fleisch.
Beweint die Hässlichkeit eurer Eltern,
der Skorpione, der Echsen und Asseln;
betrauert gemeinsam, dass auch den Kindern
keins jener Bilder erspart bleibt.
Aber bedenkt auch
die Salzträne Gottes im Blut
eines jeden von euch. Es ist nicht Hohn,
dass brünstige Schnecken die Wände
deines Traumschachts heraufkriechen,
Mensch.
Gott hat das Leben gemeint,
und er hat unten begonnen;
dass er zu dir gelangte,
welch Glück.
Und das habe ich sagen wollen;
ich, der ich selber kein Mensch bin,
nur ein geierartiger Vogel,
Schlamm an den Fängen,
Phantom deiner Träume, doch begabt
mit einem Herzen voll Liebe,
voll Vertrauen
zu dir.