Gnade des Dichters

Gertrud von Le Fort

Aufnahme 2012

Stumm aber wird der Dichter geboren
sprachlos steht er im Kreise der flinken Sprecher
überwältigt von Staunen und immer wie heimlich trunken
vom Glanz und vom Schmerz dieser Erde -
Nur eine, die himmlische Muse entzündet sein Schweigen,
sie, die den heiligen Schlaf der Lieder behütete
und ihr Erwachen erküsst,
es sei zur Rosenblüte des Morgens oder im Nachtversinken,
wie es ihr eben gefällt - sie ist die Mächtige
und ist wie alle Gnade von oben ohne Gesetze.
Denn dies ist des Singenden heimlicher Glanz und Ruhm:
Nicht anbefehlbar ist seine Stimme, nicht untertänig
der Weisung der Welt, der kleinen des Tages,
auch nicht der hohen der Liebe,
auch nicht den sehnenden des eignen Verlangens:
In unzerbrechlichen Ketten harrt er der klingenden Stunde,
die da mit Flügeln bricht aus dem Unbekannten,
mit Flügeln fällt sie ihn an, mit Flügeln hebt sie ihn auf, mit Flügeln lässt sie ihn fallen
zurück ins Gefängnis der Ohnmacht.
Doch tausendstündiges Schweigen gilt nichts gegen einen Gesang
und herrlich ist auch Verstummen, wenn es die Muse gebietet -
ja herrlich ist's abzuhängen von einer himmlischen Stimme.