Rote Nelken

Selma Meerbaum-Eisinger

Aufnahme 2020

Ich habe Angst. Es drückt auf mich das Dunkel jeder
  schwülen Nacht.
Es ist so still, und mich erstickt des großen Schweigens
  schwere Pracht.
Warum, warum bist du nicht da? Ich hab' gespielt, ich
weiß – verzeih.
Ich hab' mit meinem Glück gespielt – es ging entzwei –
  verzeih.
Es tut so weh, allein zu sein. Drum komm, ich warte ja.
Wir lachen uns ein neues Glück, so glaub es doch und
  komm zurück – es ist ja so viel Lachen da.
Schau mich doch an. Ist wohl mein Bild noch da in deinem
  fernen Blick?
Ich will dich, wie die Traube will, daß man sie, wenn sie
  reif ist, pflückt.
Mein Haar, es wartet. Und mein Mund will, daß du wieder
  mit ihm spielst.
Sieh – meine Hände bitten dich, daß du sie in die deinen
  hüllst.
Sie sehnen sich nach deinem Haar und sehnen sich nach
  deiner Haut,
wie nach dem Traum sich sehnt ein Kind, das ihn auch nur
  einmal geschaut.
Schau, es ist Frühling. Doch ist er blind, er weint ja
  immerfort.

Solange wir nicht beisammen sind, so lange weint er wie
  der Wind, dem der liebste Wald verdorrt.
Sieh, alles wartet nur auf uns: es warten alle Wege, alle
  Bänke.
Es warten alle Blumen nur, daß ich sie pflücke und dir
  schenke.
Du hältst die Sterne, die auf unsrer Schnur noch fehlen, in
  der Hand.
Du hast sie keiner anderen umgehangen.
Und findest du für sie nicht bald ein neues Band,
so hast du mit den vollen Händen nicht was anzu-
fangen.
Sieh – unsre Schnur, sie wartet noch. Ich hab' sie zärtlich
  aufgehoben.
Es fehlt auch nicht ein einz'ger Stern und's ist kein fremder
  mit verwoben.
Wir müssen nicht um neue Schnüre fragen. Die alte ist
  noch schön und lang.
Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand – sie
  kann noch zehnmal tausend tragen.
Du bist so stark. Ich möchte mich so gern in deine Arme
  lehnen. Wenn du mich führst, so geh ich schnell.
Entsinnst du dich noch jener Nacht, der Schnee war weich
  und klingend hell,
in der dein Arm mich stark umfing und ich so schnell und
  sicher ging, als wär' ich groß wie du?

O, komm und führe mich so gut von Hindernis zu
  Hindernis. Ich will gewiß nicht müde sein,
ich bin dann sicher nicht mehr klein
und brauche keine Ruh'.
Und dann – in unsrem Liebeszelt, o dann, dann werfen wir
  der Welt das hellste Lachen zu.
Nicht wahr, du kommst? Ich wein' nicht mehr. O nein,
ich bin ja nicht mehr leer,
du kommst gewiß, du kommst geschwind, o du mein starker, schöner Wind –
du wirst zum Sturm und reißt mich mit in deinem heißen,
  wilden Ritt.
Ich bin noch hier. Der Traum ist aus. Ich bin allein — wie
roter Wein, so kocht mein heißes Blut.
Du bist nicht da — und warst so nah, und warst so süße,
  wilde Glut.
Der Frühling weint. Er weint um uns. Wirst du ihn ewig
  weinen lassen?
Du bist so gut. Drum komm zurück — du sollst mich um
  die Schultern fassen,
wir wollen glühn so wie im Traum, wir wollen blühn wie
  Baum nach Baum aufblühen werden dicht bei uns.
Ich will dann lachen. Und dann klingt die ganze Luft – die
  Sonne klingt. Das Wasser klingt, es klingt die Nacht –
so hör, ich hab' für dich gelacht!

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Rote Nelken [Meerbaum-42]

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