Nach Auschwitz

Richard Exner

Aufnahme 2021

1

Keine Gedichte mehr?

Etwa der apologetische
Regierungsbericht
(das Weißbuch – o Sprache,
mißbrauchte Sanftheit
des Schnees),
der langatmig verlogne
Roman oder die
Zeitung?

Wie ein Massengrab
spart ein Gedicht
Raum und Zeit.

Vor Auschwitz,
seit Auschwitz
regnete es Diktaturen,
und Flüsse und Städte
führten Blut.

Seit Auschwitz
ist die Geschichte
nicht totzukriegen.
Arbeit macht
immer noch frei,
und abends hört
immer noch Bach
oder Mozart,
wer tagsüber tötet.

Seit Auschwitz
– Hut ab vor diesem
Jahrhundert –
ist nichts mehr
unmöglich.

Auch Gedichte nicht.

2

Ermuntert,
ihrer Phantasie
freien Lauf zu lassen,
zeichneten Kinder
aus Kambodscha,
dessen neuester Mörder
letzthin befand,
es gebe dort ganze
Millionen Menschen
zuviel,
wie man Eltem,
Geschwister und Fremde
aufhängte, erschoß
und verbrannte.

Dabei
erkundigte sich ein Mädchen,
was eine Puppe sei.

Die Luft bebt noch
vom Zuschlagen der Pforten
des Gartens,
und eine Stimme,
die Adam und Eva
zur Arbeit befahl
(es war Gnade, glaubt
mir, Routine und
Trost der Erschöpfung),
weht noch immer.


3

Heute,
einen Atemzug
vor dem dritten Jahrtausend
des Kreuzes,
fressen
die erste und zweite Welt
wahllos die dritte.

Strahlend
wird zugrunde gehen,
was nicht verhungert.
Anthropophagen:
o wie das Fremdwort
euch schont:

Die Apokalypse
(Johannes auf Patmos,
Hieronymus Bosch,
die furchtbaren
Märchenerzähler)
hat schon lange
begonnen.

Wir leben,
ehe wir sterben
ihre Details.


4

Frühmorgens
die Sonne,
die Blumen,
das Erdreich geöffnet.
Natürlich
schlagen die Amseln
auch im Wald
von Katyn.

Hut ab
vor unserem Jahrhundert.
  Sein Fortschritt
  ist unübersehbar:
  Genickschuß und
  Hirnchirurgie
  pflegt es mit
  Akkuratesse.
  Es rottet uns aus
  wie es uns rettet
  und ficht mit dem Krebs
  den es gesät.
Kopf ab
vor unserem Jahrhundert.

Komm,
neues Jahrtausend
nach Auschwitz.

Sonst war alles umsonst.

5

Daß wir weiterlieben
ist ein Wunder.

Seit Auschwitz,

seit Auschwitz
schäme ich mich
in der Umarmung.

Dein Hals pulst
gegen meine Lippen
wie große Vögel
ihre Beute schlagen.

Unsere Leiber
fahren atemlos
ineinander
und liegen nackt
verklammert,
als hätte sie einer
zu Tode geduscht.

Solange ich
deine Haut spüre,
schinden sie dich nicht
zu Lampenschirmen.

Wir fahren vor Dankbarkeit
aus dem Schlaf.


6

Wach auf!
Sie töten im Schlaf,
und südlich von uns
(los desaparecidos)
wird, was einer geküßt
(die Verschwundenen)
schon wenig später
gefoltert.

Komm,
eh uns mit Keulen
die Stunde schlägt,
ehe wir,
die Verschwindenden,
uns übergeben.

Trotz Auschwitz
ist die Geschichte
nicht totzukriegen.
Aber wir,
aber wir,
und wie leicht.


7

Wach auf,
berühre mich,
warte nicht,
bis die Zeiten
sich ändern.
Sie ändern
sich nie.

Bis Auschwitz
und alle Verschwundenen
vergessen, erinnert,
gesühnt –
sind wir verstummt.


8

Dennoch Gedichte.

Mundtot gesprochen,
gefoltert empfangen.

Nur Menschen
verschwinden
spurlos.

Dichter kann man
erschlagen, Namen
werden gelöscht.
Einer, die Hoffnung
vielleicht, brennt sich
die Lettern ins
Hirn.

Weiß,
drucklos,
aus Archipelen
über die Grenzen
mit ihnen.

Und jetzt
schreien, sie laut
und auswendig
schreien:

Die Schrift
als Sturm,
als Rauch von Menschen,
die brannten.

für Wolfgang Weyrauch