Deutschland, ein Kindermärchen

Mascha Kaléko

Geschrieben auf einer Deutschlandreise im Heine-Jahr 1956

Aufnahme 2011

I.
Nach siebzehn Jahren in „U.S.A.“
Ergriff mich das Reisefieber.
Am letzten Abend des Jahres wars,
Da fuhr ich nach Deutschland hinüber.

Es winkten die Freunde noch lange am Pier.
Die einen, besorgt und beklommen.
Doch andere wären, so schien es mir,
Am liebsten gleich mitgekommen.

Dezemberlich kühl sank – ein Dollar aus Gold –
Die Sonne am Strand von Manhatten.
Und was greifbar im Lichte des Tages mir schien,
Entschwebte in Silhouetten ...

- O, Deutschland, du meiner Jugend Land,
Wie werd ich dich wiederfinden?
Mir bangte ein wenig. Schon sah man New York
Und die Freiheits-Statue schwinden ...

Es schwankten die bunten Laternen an Bord,
Vom B-Deck erscholl ein Orchester.
- Ich schwänzte das ‚Festliche Gala-Souper‘
Und hatte mein eignes ‚Sylvester'...

Ich grüßte dies recht bedeutsame Jahr
Mit bestem französischen Weine.
Vor einem Jahrzehnt starb das ‚tausendste Jahr‘,
Und vor einem Jahrhundert – starb Heine!

II.
Es hat wohl seitdem kein deutscher Poet
So frei von der Freiheit geschrieben
Wo das Blümlein „Freiheit“ im Treibhaus gedeiht,
Wird das Treiben ihm ausgetrieben ...

Er liebte die Heimat, die Liebe, das Leid,
Den Geist und die feine Nuance,
Und war nur ein Deutscher. Ein Deutscher, kein „Boche“.
- Es lebe „la petite différence“!

Satiriker, Lyriker und Patriot
Sans Eichenlaub und Schwerter,
Ein Rebell sans peur et reproche,
Ein Horaz, Aristophanes, Werther,

Aus Simsons Stamme, von Davids Geschlecht,
Worob die Philister ihn höhnten;
Denn er spießte den speißigen Goliath
Auf haarfein geschliffene Pointen.

III.
Wie Heinrich Heine zu seiner Zeit
War auch ich in der Fremde oft einsam.
(Auch, daß mein Verleger in Hamburg sitzt,
Hab ich mit dem Autor gemeinsam.)

Der Lump sei bescheiden: Ich sag es mit Stolz,
Daß von Urvater Heine ich stamme,
Wie Tucholsky und Mann, Giraudoux und Verlaine –
Wir lieben das Licht und die Flamme!

... Auch bin ich „ein deutscher Dichter,
Bekannt im deutschen Land“,
Und nennt man die zweitbesten Namen,
So wird auch der meine genannt.

Auch meine Liebe, sie war einst
Im Munde des Volkes lebendig.
Doch wurden das Lied und der Sänger verbannt.
- Warn beide nicht „bodenständig“.

Ich sang einst im preußischen Dichterwald,
Abteilung für Großstadtlerchen.
Es war einmal.- Ja, so beginnt
Wohl manches Kindermärchen.

IV.
„... Da kam der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen.“ – Weil sie nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
Sind neuerdings streng vegetarisch.

Jeder Sturmbannführer ein Pazifist,
So lautet das liebliche Märchen,
Und wieder leben Jud und Christ
Wie Turteltaubenpärchen.

Man feiert den Dichter der „Loreley“.
Sein Name wird langsam vertrauter.
Im Lesebuch steht „Heinrich Heine“ sogar,
- Nicht: „unbekannter Autor“.

Zwar gibt’s die Gesamtausgabe nicht mehr,
Auch zum Denkmal scheints nirgends zu reichen.
Man verewigt den Dichter in Miniatur
- Vermittelst Postwertzeichen.

(Was die Marke dem Spottvogel Heine wohl
Für ein leckeres Thema böte ...!
Ja, der Deutsche, er kennt seine Klassiker nicht,
Das Zitat aus dem Götz stammt von Goethe.)

Wie gesagt, es soll ein erfrischender Wind
In neudeutschen Landen wehen.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...
– Das mußte ich unbedingt sehen!