Scham
Gabriela Mistral
Aufnahme 2013
Wenn du mich anblickst, werd' ich schön,
schön wie das Riedgras unterm Tau.
Wenn ich zum Fluss hinuntersteige,
erkennt das hohe Schilf mein sel'ges Angesicht nicht mehr.
Ich schäme mich des tristen Munds,
der Stimme, der zerrissnen, meiner rauhen Knie.
Jetzt, da du mich, herbeigeeilt, betrachtest,
fand ich mich arm, fühlt' ich mich bloß.
Am Wege trafst du keinen Stein,
der nackter wäre in der Morgenröte
als ich, die Frau, auf die du deinen Blick geworfen,
da du sie singen hörtest.
Ich werde schweigen. Keiner soll mein Glück
erschaun, der durch das Flachland schreitet,
den Glanz auf meiner plumpen Stirn nicht einer sehen,
das Zittern nicht von meiner Hand ...
Die Nacht ist da. Aufs Riedgras fällt der Tau.
Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich zärtlich durch dein Wort.
Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt,
die du geküsst, von Schönheit strahlen.