Der Tod des Meeres

Gabriela Mistral

Aufnahme 2016

Eines Nachts starb das Meer
von einem Ufer zum andern,
sich faltend, schrumpfend,
ein Mantel, den man fortnimmt.

Gleich einem trunkenen Albatros,
wie flüchtiges Raubzeug,
lief es mit zehn Wellenschlägen
bis zum äußersten Horizont.

Als die beraubte Welt
das Tageslicht wiedersah,
war das Meer ein zerbrochenes Horn,
das auf den Ruf keine Antwort mehr gab.

Wir Fischer gingen hinunter
zur geschändeten Küste
runzelig und kahl lag sie da
wie eine ausgezehrte Füchsin.

Das Schweigen war so groß,
dass es die Brust bedrängte.
Und die Küste breitete sich endlos weit
wie einer angeschlagenen Glocke Ton.

Wo das Meer einst brüllte, gezüchtigt
von dem Gott, der es bändigen wollte,
und seinem Gott Antwort entgegenwarf
mit zornigen Hirsches Sprüngen,

wo Burschen und Mädchen
sich salzige Munde reichten
und in goldener Flechte
nur den Reigen des Lebens tanzten,

verblieben Perlmutter
die bleichen Schnecken,
die ihrer Liebe, ihres Selbst
entleerten Quallen.

Verblieben Dünengespenster,
verwitweter als Asche,
starrten auf die Höhle ihres Leibes,
der soviel Freude gekannt.

Und der Nebel griff mit seiner Hand
in kahlgewordenes Gefieder,
fuhr tastend über tote Albatrosse,
streifte umher wie Antigone.

Waisenblick warfen
Steilküsten und Buchten
auf den getilgten Horizont,
der ihre Liebe nicht erwiderte.

Und obschon uns das Meer nie gehörte
wie ein geschorenes Lamm,
wiegten die Frauen es alle Nächte
als wäre es ihr Kind.

Und obschon uns das Meer in den Traum
Kraken und Albdruck hineinwarf,
und es an die Schwelle unserer Häuser
die Ertrunkenen ausspie,

das Meer nicht zu hören, nicht zu schauen,
davon starb man langsam dahin,
und es schwand aus unseren wüstentrockenen Wangen
Feuer und Blut.

Sähen wir nur, wie es aufspränge
mit dem plötzlichen Sprung von Färsen,
wie es Quallen und Tang
keuchend emporhöbe,

wie es uns schlüge
mit seinen salzigen Wogen
und seine Wellen hochstiegen,
von Wundern brandend -

wir würden Lösegeld zahlen
gleich einem besiegten Volksstamm,
würden unsere Häuser hingeben,
unsere Söhne, unsere Töchter.

Keuchend unser Atem,
wie der des Erstickenden im Schacht,
und schon auf unseren Lippen sterben
Loblied und Preisgesang.

Mit starren Augen
rufen wir Fischer noch immer nach ihm,
klammern uns weinend
an die geschmähten Barken.

Wir wiegen sie, wiegen sie unaufhörlich,
wie das Meer sie gewiegt hat,
kauen versengte Algen,
der Ferne zugewandt,
oder beißen in unsere Hände
wie Skythensklaven.

Und wenn die Nacht da ist,
fassen wir uns bei der Hand,
heulen wir Alte und Kinder
wie verlorene Seelen:

»Thalassa, alte Thalassa,
grüne, flüchtige Rücken!
Wenn wir verlassen,
rufe uns zu dir, wo immer du weilst,

und bist du gestorben, dann wehe
der Wind von Erinnas Farbe.
Er soll uns nehmen, er soll uns werfen
an eine andere gesegnete Küste,
die Buchten dort zu zählen
und zu sterben auf ihren Inseln. «

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Der Tod des Meeres [Mistral-02]

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