Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen

Thich Nhat Hanh

Aufnahme 2024

Sag nicht, dass ich morgen fortgehen werde –
selbst heute komme ich doch immer noch an.

Schau ganz tief: In jeder Sekunde komme ich an –
um eine Knospe an einem Frühlingszweig zu sein
um ein winziger Vogel mit noch zarten Flügeln zu sein,
um in meinem neuen Nest singen zu lernen,
um eine Raupe im Herzen einer Blume zu sein
um ein Juwel zu sein, der sich in einem Stein verbirgt.

Ich komme noch immer an, um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Rhythmus meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.

Ich bin die Eintagsfliege,
die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.
Und ich bin der Vogel,
der sich herabstürzt, um sie zu verschlingen.

Ich bin der Frosch, der vergnügt
im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter,
die sich in der Stille vom Frosch ernährt.

Ich bin das Kind in Uganda, nur Haut und Knochen,
meine Beine so dünn wie Bambusstöcke.
Und ich bin der Waffenhändler,
der tödliche Waffen nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das sich ins Meer stürzt
nachdem es von einem Seepiraten vergewaltigt wurde.
Und ich bin der Pirat,
mein Herz noch nicht fähig,
zu sehen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen.
Und ich bin der Mann, der meinem Volk
seine „Blutschuld“ zu bezahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Meine Freude ist wie der Frühling, so warm,
dass sie Blumen auf der ganzen Erde erblühen lässt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom,
so gewaltig, dass er die vier Meere füllt.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
sodass ich all mein Weinen und Lachen gleichzeitig höre,
damit ich sehe, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwache,
sodass die Tür meines Herzens offen bleibt,
die Tür des Mitgefühls.



Thich Nhat Hanh erzählt die Geschichte des Gedichts:

Nach den Vietnamkrieg schrieben uns viele Menshcen nach Plum Village.
Wir erhielten jede Woche hunderte Briefe aus den Flüchtlimgslagern in Singapur, Malaysia, Indonesien, Thailand und den Philippinen, Hunderte jede Woche. Es tat sehr weh, sie zu lesen aber wir mussten in Kontakt bleiben. Wir taten unser Möglichstes, um ui helfen, aber das Leid war unermesslich und manchmal verloren wir den Mut. Es heißt, dass die Hälfte der Bootsflüchtlinge aus Vietnam im Meer ertrank und nurdie Hälfte die Küsten Südostasiens erreichte. Viele junge Mädchen, Bootsflüchtlinge, wurden von Seepiraten vergewaltigt.
Obwohl die UN und viele Staaten Thailand zu helfen versuchten, diese Piraterie zu verhinderm, wurden die Flüchtlinge weiterhin von Piraten gequält. Eines Tages erhielten wir einen Brief, der uns von einem jungen Mädchen auf einem kleinen Boot berichtete, das von einem Thai Piraten vergewaltigt worden war. Sie war erst zwölf, und sie spramg ins Meer und ertränkte sich selbst.
Wenn man so etwas erfährt, wird man zunächst zornig über den Piraten. Natürlich nimmt man Partei für das Mädchen. Sobald man tiefer schaut, sieht man es anders. Wenn man sich auf die Seite des Mädcnens stellt, dann ist es einfach. Einfach ein Gewehr nehmen und den Piraten erschießen. Aber das können wir nicht tun. In einer Meditation sah ich, dass, wenn ich in dem Dorf des Piraten geboren und unter den gleichen Bedingungen wie er erzogen worden wäre, ich jetzt der Pirat wäre. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich ein Pirat geworden wäre.
Ich kann mich selbst nicht so einfach verurteilen. In meiner Meditation sah ich, dass viele Babies am Golf von Siam geboren werden, Hunderte jeden Tag, und wenn wir Erzieher, Sozialararbeiter, Politiker und andere an dieser Situation nichts ändern, werden in fünfundzwanzig Jahren eine Anzahl von ihnen Seepiraten werden. Das ist sicher. Wenn Sie oder ich heute in diesen Fischerdörfern geboren würden, könnten wir in fünfundzwanzig Jahren leicht Seepiraten werden. Wer ein Gewehr nimmt und den Piraten erschießt, der erschießt uns alle, weil wir alle in einem gewissen Maß für diesen Zustand verantwortlich sind.
Nach einer langen Meditation schrieb ich dieses Gedicht. Darin geht es um drei Personen: das zwölfjährige Mädchen, den Piraten und um mich. Können wir uns gegenseitig ansehen und uns selbst im anderen erkennen? Der Titel des Gedichts lautet: „Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen“, weil ich so viele Namen habe. Wenn ich einen von diesen Namen höre, muss ich mit Ja antworten.