Marseille, Silvester 1940/41

Walter Mehring

Aufnahme 2023

An meine Kammer, wo ich welk,
Pocht zwölfmal an das Neue Jahr,
Spricht zugig hohl: Es war ... es war ...
Hängt seinen Jahrkranz ans Gebälk,
Verblüht – von Lügenluft erstickt
Erschlagen – von der Not geknickt:
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Mühsam: Poet und Promethid,
Erdrosselt wie ein räudiger Hund –
Ossietzky, den man so zerschund,
Daß er voltairisch lächelnd schied ...
Als man den Friedenspreis ihm bot,
Schloß er grad Frieden mit dem Tod ...
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Es weht ein Blatt – kaum leserlich:
„Die Dummheit, die wir persifliert ...
Die macht Geschichte. Die regiert ...
Herzlichst Tucholsky... Ohne mich!...“
In Schweden, krank, doch unbekehrt,
Hat er den Schierlingstrank geleert ...
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Ernst Toller, Freund aus Jugendland,
Bestimmt, um Bühnen, Meetings, Zelln
Mit ernster Tollheit zu erhelln,
Löschte sich aus mit eigner Hand ...
In Übersee, weitab der Schlacht
Warum hat er sich umgebracht ...?
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Wo in der Welt wächst nun die Art
Von Stammtisch, nah dem Luxembourg,
Rechtspolitik und Linkskultur,
Die Joseph Roth um sich geschart ...?
Von dessen Bart Weissagung troff,
Sich weise drum zu Tode soff ...
  Welch edler Jahrgang reicher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Kurz vor dem Fall der Stadt Paris,
Wo ich nach langer Haft Dich fand,
Besucht' uns oft der Emigrant
Ernst Weiss, der dort sein Leben ließ ...
Arzt, Dichter: mischt er Giftarznei,
Nahm sie beim ersten Hunnenschrei ...
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

Theodor Lessing, femgekillt ...
Und Hasenclever, einst vernarrt
In den esprit – im Camp verscharrt
Von Frankreich ... Welch Komödienbild!
Carl Einstein: auf der Flucht erhenkt ...
Olden, Vor Kanada versenkt ...
  Ein edler Jahrgang deutscher Reben,
  Nutzlos verschüttet, ließ sein Leben.

Doch Horváth, den ein Baum erschlug,
Damit solch Kleinod im Exil
Den Säuen nicht zum Fraße fiel,
Starb ganz er selbst: ein Satyr-Spuk ...
Die Türe knarrt ... zwölfmal pocht's an:
Die tote Elf – der Sensenmann ...
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

In dieser Kammer, wo ich welk, -
ich in Marseille, Du in New York
Wo ausgejätet und auf Borg
Und fruchtlos in Erinnrung schwelg,
Drauf wartend, daß die Freundes-Elf
Gelinde mir hinüberhelf ...
  Der beste Jahrgang deutscher Reben
  Ließ vor der Ernte so sein Leben ...

... wär mir ein Etwas noch vergönnt,
Weil Neu-Jahr ist, so sei's: ich könnt,
Sturmläutend jeden Nervenstrang,
Dich hautdicht, duftnah herbeschwörn,
Dich atmen, tasten, schauen, hörn
Dank einem rauschhaft heilenden Trank ...
  Aber der Wein, daß ich genese,
  Reift nicht,
     zerstört längst vor der Lese ...