"Machtergreifung"
Angesichts solcher Äußerungen war eigentlich völlig klar, wohin die Reise ging. Ungeachtet dieser unmissverständlichen pauschalen Mordaufrufe gegen gewählte Abgeordnete des Reichstags, ungeachtet der öffentlich sichtbaren Terrorwelle gegen Andersdenkende, die bereits drei Wochen getobt hatte, ungeachtet der offen betriebenen Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte stimmte der Reichstag am 24. März 1933, heute vor 80 Jahren, dem Ermächtigungsgesetz zu. Die damals noch formal nötige Zweidrittelmehrheit erhielt es durch die Zustimmung des katholischen Zentrums. Unter dem Druck des auf der Straße wütenden braunen Mobs, in Anwesenheit von bewaffneten SA-Abteilungen im Plenum und unter einem riesigen Hakenkreuzbanner an der Stirnwand wagten einzig die Sozialdemokraten Widerstand und stimmten unter Gefahr für Leib und Leben mit nein. Kommunistische Abgeordnete waren bereits „entfernt“ worden und konnten an der Abstimmung nicht mehr teilnehmen.
Der damalige Vorsitzender des katholischen Zentrums Prälat Dr. Ludwig Kaas sprach in der Rede, mit der er die Annahme des Gesetzes begründete, Worte, die in verhängnisvoller Verkennung der Wirklichkeit und in schuldhafter Verstrickung dem Bösen den Boden bereiteten:
„Die gegenwärtige Stunde kann für uns nicht im Zeichen der Worte stehen, ihr einziges, ihr beherrschendes Gesetz ist das der raschen, aufbauenden und rettenden Tat. Und diese Tat kann nur geboren werden in der Sammlung. Die deutsche Zentrumspartei, die den großen Sammlungsgedanken schon seit langem und trotz aller vorübergehenden Enttäuschung mit Nachdruck und Entschiedenheit vertreten hat, setzt sich zu dieser Stunde, wo alle kleinen und engen Erwägungen schweigen müssen, bewusst und aus nationalem Verantwortungsgefühl über alle parteipolitischen und sonstigen Gedanken hinweg. […]
Im Angesicht der brennenden Not, in der Volk und Staat gegenwärtig stehen, im Angesicht der riesenhaften Aufgaben, die der deutsche Wiederaufbau an uns stellt, im Angesicht vor allem der Sturmwolken, die in Deutschland und um Deutschland aufzusteigen beginnen, reichen wir von der deutschen Zentrumspartei in dieser Stunde allen, auch früheren Gegnern, die Hand, um die Fortführung des nationalen Aufstiegswerkes zu sichern.“
Angesichts der Mordwelle des sog. NSU, die im vergangenen Jahrzehnt über unser Land hinweggerollt ist – mangels Juden diesmal über Mitbürger mit ausländischen Wurzeln – und angesichts der beschämenden Inkompetenz und Indifferenz der damit befassten sog. Ermittler, deren verheerende Untätigkeit durchaus den Verdacht der Komplizenschaft rechtfertigt, möchte ich an Bert Brechts „Arturo Ui“ anknüpfen:
„Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert -
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!
und an den Schluss meiner Überlegungen Reinhard Meys Lied „Sei wachsam“ stellen.
http://www.youtube.com/watch?v=BU9w9ZtiO8I