Die unverstandene Frau

Erich Kästner

Aufnahme 2015

Er band, vorm Spiegel stehend, die Krawatte
Da sagte sie (und blickte an die Wand):
"Soll ich den Traum erzählen, den ich hatte?
Ich hielt im Traum ein Messer in der Hand.

Ich hob es hoch, mich in den Arm zu stechen,
und schnitt hinein, als sei der Arm aus Brot.
Du warst dabei. Wir wagten nicht zu sprechen.
Und meine Hände wurden langsam rot.

Das Blut floss lautlos in die Teppichranken.
Ich hatte Angst und hoffte auf ein Wort.
Ich sah dich an. Du standest in Gedanken.
Dann sagtest du: 'Das Messer ist ja fort...'

Du bücktest dich. Doch es war nicht zu finden.
Ich rief: 'So hilf mir endlich!' Aber du,
du meintest nur: 'Man müsste dich verbinden',
und schautest mir wie einem Schauspiel zu.

Mir war so kalt, als sollte ich erfrieren.
Du standest da, mit traurigem Gesicht,
und wolltest rasch dem Arzt telefonieren
und Rettung holen. Doch du tatst es nicht.

Dann nahmst du Hut und Mantel, um zu gehen,
und sprachst: 'Jetzt muss ich aber ins Büro!'
Und gingst hinaus. Und ich blieb blutend stehen.
Und starb im Traum. Und war darüber froh..."

Er band, vorm Spiegel stehend, die Krawatte.
Und sah im Spiegel, dass sie nicht mehr sprach.
Und als er sich den Schlips gebunden hatte.
griff er zum Kamm. Und zog den Scheitel nach.